"Meine VI. wird Rätsel aufgeben, an die sich nur eine Generation heranwagen darf die meine ersten fünf in sich aufgenommen und verdaut hat", schrieb Gustav Mahler an seinen Freund und späteren Biographen Richard Specht im Herbst des Jahres 1904 (GMB 1982, 295). Das war die erste Prophezeiung, die dieser Symphonie galt. Seither scheint das Werk eine geradezu magische Anziehungskraft für visionär inspirierte Exegeten zu besitzen. Die allzu realistische Auffassung des Enigmatischen, für dessen Entschlüsselung der Komponist nicht einmal den Hauch eines Kodes hinterlassen hat, zog wiederum Skepsis und Widerspruch nach sich, so dass sich behaupten lässt, keine der Symphonien Mahlers habe so extrem gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen wie die Sechste. Nicht nur ende sie offenbar unversöhnlich, auch die Geschichte ihrer Rezeption ist durch tiefste Gegensätze geprägt.
Dafür kann eine Position der Mitte wenigstens für die Stellung im Gesamtœvre ausgemacht werden. Die Symphonie a-Moll ist nicht nur das Mittelstück in der Trias der Instrumentalsymphonien Nr. V-VII, sondern zugleich so etwas wie die Zentralachse aller Symphonien. Und der mächtige Finalsatz bildet laut Adorno "das Zentrum von Mahlers gesamtem Œvre" überhaupt (Adorno 1960, 131).
Im Werk selbst lösen "katastrophenartige Einsturz- und unersättliche Erfüllungspartien" einander ab (Sponheuer 1978, 284). Extrempunkte markieren vielleicht der süße, mit chromatischen Geschmacksverstärkern versehene Cantabile- Schmelz im Hauptthema des Andante und die "mit roher Kraft" im dreifachen forte ausbrechenden Akkordballungen im Zentrum der Finaldurchführung. Nach wellenartigen Aufschwüngen zu höchster Glückseligkeit versinkt "alles" - ob nun der Held, die Gattung, die Musik, Welten oder die Welt - in der finalen Katastrophe. Die polaren Positionen der Rezeptionsgeschichte könnten - in idealtypischer Grobheit - mir prominenten Begriffspaaren etikettiert werden: Semantiker stünden Syntaktikern gegenüber, lnhaltsästhetiker liefen Sturm gegen die Front der Autonomieästhetiker, und die "autobiographischprogrammatische Konzeption" (Floros, Mahler III, 156) hätte ihr "Anathema!" mir der Kategorie der Formimmanenz, (Adorno 1960, 136) zu empfangen. Während die eine Seite vom Werk semantische Gehalte empfängt, kultiviert die andere den analytischen Nachvollzug musikalisch-struktureller Sinnstiftung. Da wird die strenge Form vor allem der Ecksätze hervorgehoben und die faszinierende Komplexität ihrer thermischen Formprozesse, zugleich jedoch begegnet das Wortfeld Ahnung, Katastrophe, Untergang, Vernichtung.
Der Intensität des wissenschaftlichen Diskurses wie auch der Anerkennung seitens der Repräsentanten der Wiener Schule - Alban Berg an Anton von Webern nach einer Aufführung des Werks: "Es gibt doch nur eine VI. trotz der Pastorale" (zit. nach Redlich 1968, VI) - steht indes die Reserve des Konzertbetriebs entgegen. Denn die Sechste muss zu den am wenigsten gespielten Werken Mahlers überhaupt gerechnet werden (Statistiken bei Metzger 2000, 246 ff.). In dieser Hinsicht nimmt das Werk eine periphere Position ein.
Diese gegensätzlichen Konstellationen könnten dazu verleiten, die berühmte Brahms-Frage gewissermaßen der entwickelnden Variation zu unterziehen: "Aimez-vous la Sixième de Mahler?". Kann man die strenge Stimmigkeit der Form bewundern und zugleich ihre negative Verlaufskurve mir ihren Assoziationsangeboten von Zerstörung und Tod fürchten oder gar hassen? Gibt es dazwischen einen Ort der "Mitte" oder gar der Versöhnung? Wie konnte Adorno eine "musikalisch immanente Negativität Mahlers" postulieren (1960, 165), als hielte ein negatives, noch dazu geschichtsphilosophisch legitimiertes Generalvorzeichen in der "Formimmanenz" stand, statt von der Selbstbezüglichkeit des Kunstwerks ästhetisch neutralisiert oder gar positiviert zu werden? Muss sich die Rede vom »Gelingen des Scheiterns« nicht das Widerwort vom "Untergang des Untergangs" gefallen lassen?